Bei Städtereisen denkt man eher nicht an Minsk.

Dabei ist Weißlands Hauptstadt in mancherlei Hinsicht einzigartig - und ein Trip dorthin gar nicht so kompliziert.

Warum nicht Minsk?

 

Im Print erschienen in den

Salzburger Nachrichten

 

Drei Dinge brauchen Minsk-Besucher: Gutes Schuhwerk, Offenheit und eine dicke Brieftasche.

Die Schuhe zum Durchwandern der Stadt. Die Wege dort sind nämlich nicht lang, sondern sehr lang. Im Fall des zentralen Unabhängigkeits-Boulevards (Praspyekt Nyezalyezhnastsi) zum Beispiel 15 Kilometer. Die Gebäude sehen aus, als hätte man nach den schweren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg einer Handvoll sowjetischer Architekten je ein Feld im neuen Minsker Straßen-Schachbrett zugewiesen und sie drauflos planen lassen.

 

Herausgekommen ist einmal Renaissancehaftes, ein anderes Mal Zuckerbäckerisches und dazwischen jede Menge Betonistisch-Kubistisches. Der Architekt und Regimekritiker Artur Klinau berichtet in seinem Buch „Sonnenstadt der Träume“, dass Minsk damals nicht nur als sowjetische Musterstadt gedacht gewesen sei, sondern auch als Probelauf für die letztlich nicht exekutierte Umgestaltung von Moskau.

 

Erwandern wir uns Minsk also. Wenngleich auch U-Bahn-Fahrten sein müssen, schon weil ein Hauch Moskau die Stationen durchweht, zum Beispiel die Oktobrskaya, Ecke Lenin-Straße. Voller Marmor und Gemälde und mit einer Art Shop-in-Shop-Einkaufszentrum darüber. Gut, dass dort Fotografieren verboten ist, so hat man mehr Zeit zum Schauen.

 

Womit wir beim zweiten Ausrüstungsgegenstand wären, der Offenheit. Es gilt, Vorurteile zu revidieren - Stichworte Lukaschenko und letzte Diktatur Europas. Im Blickfeld behält man derlei ohnehin: Es gibt immer noch eine "Leningrad-Straße", die Sowjet-Sterne mit dem
Vermerk "Heldenstadt" prangen immer noch über den Straßen, und die Lenin-Denkmäler stehen aufrecht. Allerdings zwischen McDonald's- und Bennetton-Filialen. W-Lan ist selbstverständlich, und die Bankomaten spucken klaglos Belarus-Rubel aus. Ach ja, Stichwort dicke Brieftasche: Die brauchen Sie wegen der hohen Summen: Hunderttausend Rubel sind sieben Euro.

 

Dafür können Sie ordentlich essen... Vorausgese´tzt eben, Sie haben ein Bündel Rubel, auch "Rubelchen" genannt, mit der entsprechenden Dicke eingesteckt.

 

Ein Stadt-Weitwanderweg

Das touristische Minsk ist also recht normal. Gut, man braucht ein Visum, es erwarten einen keine Hop-on-Hop-off-Busse - und dann noch diese kyrillischen Schrift... Aber Klagen über Eintönigkeit und Polizei-Allmacht können wir anhand zweier Minsk-Besuche nicht
bestätigen. Vielmehr ist der Alltag fröhlicher, der Dresscode bunter und sind die Autos moderner als erwartet. Fallbeispiel Karl Marx-Straße, Samstagnachmittag: Am Eingang der Fußgängerzone widmen sich junge Leute zum CD-Player dem Lindy Hop, im Café daneben tanzt die Elterngeneration Tango, und ein paar hundert Meter weiter findet ein Grand Prix mit ferngesteuerten Mini-Boliden statt. Dazwischen Kunsthandwerk aller Geschmacksrichtungen.
Wir umrunden auf einem Abstecher das Dinamo-Stadion, das aussieht, als hätten schon die alten Römer Fußball gespielt und gehen dann links die Engels-Straße hinauf zum zentralen Oktoberplatz. Der liegt größenmäßig nur auf Rang 41 aller Plätze der Welt, aber nach Monumentalität wäre er weiter vorn: Rechts das üppig mit klassizistischen Figuren angereicherte Museum des Großen Vaterländischen Krieges (Pflichtbesuch, schon um zu sehen, wie man in Weißrussland Museen gestaltet!), links einige Verwaltungs-Trutzburgen und in der Mitte, formatfüllend, Palast der Republik aus den letzten Sowjet-Jahren, ein minimalistischer griechischer Tempel für Massenveranstaltungen. Am LCD-Schirm vorn laufen amerikanische Film-Reklamen. Kein Objektiv ist weitwinkelig genug, um diesen
Eindruck einzufangen.

 

Links hinten stört etwas dieses Bild. Viel zu kleine Hausdächer. Dazwischen ein Tor, gerade breit genug für ein einziges Auto. Das ist die Altstadt. Besser gesagt das, was davon übrig ist: wenige Gassen, die Heilig Geist-Kathedrale, aus der orthodoxe Gesänge dringen und ein
Park, durch den man hinunter zum Flüsschen Swislatsch gelangt. Dass hier zuletzt viel revitalisiert wurde, ist offensichtlich.
Der Swislatsch quert Minsk von Südosten nach Nordwesten. Bürotürme und Wohnblocks an den Ufern stehen für das neue, junge Minsk. Parks und Radwege bilden ein Erholungsgebiet in der Stadt. Unweit des Sportpalasts liegt die bedrückendste Erinnerung: Die Grube. So heißt ein Mahnmal für den Holocaust. Siebenundzwanzig Statuen schreiten da ihrer Ermordung entgegen. Hagere, ausgemergelte Gestalten. Bis zu 60.000 Juden wurden im Ghetto rund um diesen Ort gefangen gehalten, planmäßig getötet und oft an Ort und Stelle verscharrt. Die wenigen Überlebenden verdankten dies vor allem der Hilfe von Partisanen.

 

Man könnte den Swislatsch nun überschreiten, zur Insel der Tränen, einem Monument für den Afghanistan-Krieg und zur strahlend weißen National-Oper. Aber das sind genügend Kilometer für den nächsten Minsk-Wandertag. Gehen wir lieber weißrussisch essen. Was nicht einfach ist, denn vor lauter Pizza- und Sushi-Reklamen findet man nur schwer Lokale mit regionaler Küche, mit Borschtsch und den Draniki genannten Kartoffelpuffern aller Variationen. Und vor 21 Uhr sollte man auch noch dran sein.

 

Dont’s & Do’s

Was man in Belarus nicht tun sollte: Einheimische durch politische Fragen in Verlegenheit bringen. Dass da eine schlitzohrige Politik gefahren wird, ist ohnedies zu erkennen. Das Regime scheint nach und nach Wirtschaftsbereiche freizugeben, um den Lebensstandard zu finanzieren. Auch ist das Land ökonomisch nicht hilf- und chancenlos. Es galt schon in der UdSSR als gut entwickelt, ist einer der größten Kali-Produzenten der Welt und ein treuer Partner Russlands. Typisch, dass die Bezeichnung Weißrussland eigentlich unzureichend ist. Belarus lässt sich ebenso mit „Westlicher Rus“ übersetzen.

 

Neuerdings hört man auch von vielen chinesischen Investitionen. Wer sich aktuelle Immobilienprojekte ansieht, etwa den 170 Meter hohen Minsk-Tower, glaubt das sofort.

 

In Österreich lebende WeißrussInnen berichten überdies von problemlosen Auslandsreisen, von drakonischen Strafen bei kleinsten Korruptionsfällen und dass es in Schulen und Betrieben Ideologie-Beauftragte gebe, welche ganze Familien schikanieren können. Warum
es vor diesem Hintergrund um die Opposition in Belarus recht ruhig wurde, bringt der Philosoph Valentin Akudowitsch in seinem Buch „Der Abwesenheitscode. Versuch, Weißrussland zu verstehen“ auf den Punkt: "Es geht darum, dass der Mensch sich nach Sicherheit sehnt und dafür Unfreiheit in Kauf nimmt."

 

Was man in Minsk tun sollte: Eines der Angebote für tadellose, private Apartments nützen, die von Startup-Unternehmen über die Stadt verstreut angeboten werden. Das ist billig, zeigt einem die aktuelle weißrussische Wohnraum-Ästhetik und ermöglicht einen Blick auf das Minsk abseits der Prospekte und Praspyekte, von Nebenstraßen über Hinterhöfe bis zu den Stiegenhäusern.